150 Jahre Rotes Kreuz

2013 ist Jubiläumsjahr. Und zwar ein ganz besonderes.

Mit der Gründung des Roten Kreuzes im Jahr 1863 hat zum ersten Mal das Prinzip der Menschlichkeit in Politik und Gesellschaft verbindlich Eingang gefunden

Schlacht von Solferino, 1859

Eine Armee ohne Sanitäter?

Ohne Ärzte und Krankenschwestern, die Verletzte bergen, Qualen lindern und Leben retten?

Kaum vorstellbar - doch noch Mitte des 19. Jahrhunderts schreckliche Normalität.

1859, als sich Franzosen, Italiener und Österreicher im norditalienischen Solferino eine blutige Schlacht liefern, bleiben 40 000 Soldaten zurück - verwundet, unversorgt, sterbend.

Im nahen Dorf Castiglione, wohin die Verwundeten gebracht werden, bekommt sie der 31-jährige Genfer Geschäftsmann Henry Dunant zu Gesicht.

Erschüttert von der Grausamkeit des Erlebten und der Hilflosigkeit der Opfer, vergisst er den geschäftlichen Grund seiner Reise.

Er beginnt - ohne Mandat und Auftrag - , die verletzten Soldaten zu versorgen, nimmt die Dorfbewohner in die Pflicht und kümmert sich darum, dass die letzten Worte der Sterbenden an Anghörige weitergeleitet werden.

Nach den Erfahrungen von Solferino fordert Dunant öffentlich einen menschlichen Umgang mit Kriegsopfern. Er entwickelt den Gedanken einer von Staaten als neutral anzuerkenneden Organisation, die im Kriegsfall Notleidende angemessen versorgen kann. Gemeinsam mit vier Mitstreitern gründet er Anfang 1863 das "Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für Verwundetenpflege", auf dessen Initiative im Oktober des gleichen Jahres die erste Genfer Konferenz stattfindet.  

Vertreter von 14 europäischen Staaten beschließen die Gründung nationaler Hilfsgesellschaften, die Neutralität genießen sollen.

Ihr Erkennungszeichen wird - als umkehrung der Schweizer Flagge - das rote Kreuz auf weißem Grund. Der Rote Halbmond der islamistischen Welt wird 1929 als gleichberechtigtes Symbol anerkannt.

Bereits einen Monat nach der ersten Genfer Konferenz entsteht 1863 mit dem "Württembergischen Sanitätsverein" die erste Rot Kreuz-gesellschaft der Welt.

Weitere elf folgen in Deutschland und bilden 1869 den ersten Rot-kreuz -Dachverband. Dieser wird nach dem Ersten Weltkrieg 1921 als Deutsches Rotes Kreuz neu orgainisiert.

Die Entstehung des Roten Kreuzes markiert eine historische Zäsur. Zum ersten Mal bekennen sich Mächtige zum Prinzip der Menschlichkeit.

Von nun an ist es in der politischen Welt und wird im Laufe des 20. Jahrhunderts in errungenschaften wie dem Humanitären Völkerrecht münden.

Das Rote Kreuz selbst enwickelt sich zu einer globalen Bewegung und umfasst heute 188 Nationale Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaften mit rund 100 Millionen Helfern. Ging es vor 150 Jahren noch in erster Linie um die Verwundetenfürsorge im Kriegsfall, so sind Rotkreuzler heute in allen Bereichen der Zivilgesellschaft tätig: Sie stellen die Sanitäts- und Rettungsdienste sicher, arbeiten in Pflegeheimen und Kindergärten, helfen Flüchtlingen nach katastrophen oder Versorgen Obdachlose in Winternächten.

Die überwiegende Mehrheit tut das ehrenamtlich - in Deutschland alleine 400 000 Menschen.         

 

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 2_12  

Das Denkmal des Roten Kreuzes in Solferino. Jede nationale Rot Kreuz- oder Rothalbmond Gesellschaft hat hier einen Stein.

Im Zeichen der Humanität

Teil 1: Das Solferino-Prinzip (1859)

1863 wurde das Rote Kreuz gegründet. Auslöser war vier Jahre die Schlacht von Solferino und Henry Dunants Idee einer neutralen Hilfsorganisation für Verwundete. Noch heute pilgern Rotkreuzhelfer zum Jahrestag an den historischen Schauplatz.

Auch Rotkreuzler aus Mägerkingen nahmen schon an dieser "feierlichen Prozession" teil. Ein paar eindrücke sehen Sie hier!  

Sie kommen aus Düsseldorf und Rosenheim, aus Rom und Cesenatico, aus Kärnten und Korea.

Rund viertausend Rotkreuzhelfer sind nach Solferino gepilgert, um den Jahrestag der Schlacht zu begehen. Und damit auch den Jahrestag jener revolutionären Idee von Henry Dunant, die bald den Namen und das Zeichen des Roten Kreuzes tragen sollte.

Höhepunkt wird der Fackelzug von Solferino nach Castiglione sein. Er soll quer über die einstige Front führen, wo am 24. Juni 1859 gut hundertausend Italiener und Franzosen ebenso vielen Österreichern gegenüberstanden. Es wurde eines der blutigsten Gemetzel des 19. Jahrhunderts.

 

Der Gast aus Genf

Seit Tagen schon hastete damals ein junger Geschäftsmann aus Genf der französischen Armee hinterher, in der verwegenen Hoffnung auf eine Audienz bei Napoleon III. Er wollte einen Agrarbetrieb in Algerien aufbauen, doch die Unterstützung durch die Behörden blieb aus. Er glaubte ein Fürsprache von allerhöchster Stelle könne die Geschäfte wieder in Gang bringen.

Der Mann, Henry Dunant mit Namen, fiel durch seinen hellen Tropenanzug auf - der durchaus gerechtfertigt war angesichts der afrikanischen Hitze, die über der Po - Ebene brütete. Und der zugleich seine koloniale Kompetenz betonen sollte. Henry Dunant langte am Morgen nach der Schlacht, aso am 25. Juni, in Castiglione an.

Doch sein Plan, beim Kaiser vorzusprechen, war schon nach wenigen Stunden Makulatur, und in Dunant begann sich eine Wandlung zu vollziehen, die für den Rest seines Lebensbestimmend bleiben sollte.

Er stieg bei einer örtlichen Adelsfamilie ab, die ihren Palazzo erst für französische Offiziere und nun für Verwundete zur Verfügung gestellt hatte. Das Zimmer das Dunant bewohnte, ist bis heute fast unverändert erhalten geblieben, mit Diwan und Kommode im Empire - Stil, mit Deckenbemalung, mit Kachelöfchen und Betschemel. Vom Balkon aus blickte er direkt auf den Dom und seinen Vorplatz. In aller Eile war die wuchtige Kirche zum Behelfskrankenhaus umfunktioniert worden, und von weither trafen nun Tausende von Verwundeten ein. Ohne es zu ahnen, war Dunant im Brennpunkt einer kollektiven Katastrophe angekommen. Bald war auch der Kirchplatz dicht gedrängt mit Versehrten, Sterbenden und Toten. Doch nur zehn französichen Ärzte waren verfügbar, am nächsten Tag sogar nur noch sechs. Dunant versuchte,"gemeinsam mit einigen hiesigen Frauen die Ärzte notdürftig zu ersetzen". Die meisten waren einfache Landfrauen, doch auch seine Gastgeberin packte mit an.    

Dunant verteilte Wasser und Suppe, bandagierte Wunden, beorgte Wäsche, spendete Zuspruch und Trost. es gelang ihm, einige gefangene österreichische Ärzte als Verstärkung vorübergehend freizubekommen. Doch es fehlte an fast allem. Fieberhaft schrieb er einen Brief an die einflussreiche Comtesse de Gasparin in Genf und  beschwor sie, Unterstützung zu organisieren:"Selbst das Schlachtfeld ist nichts im Vergleich zu einer Kirche, in der fünfhundert Verwundete zusammengepfercht sind.

Seit drei Tagen sehe ich inmitten unerhörten Leids, wie alle Viertelstunde eine Seele die Welt verlässt." Das tausenfache Elend erschüttert ihn zutiefst.

"Verzeihen Sie, Madame, aber ich schreibe Ihnen unter Tränen; ich kann nicht fortfahren. Man ruft mich wieder."

Wie erhofft, wurde sein Notschrei in maßgeblichen Genfer und Pariser Journalen veröffentlicht (unter "Vermischtes"), und mehrere Freiwillige machten sich mit Hilfsgütern auf den Weg in die Lombardei. Doch damals hätte Dunant es sich nicht träumen lassen, dass sein Beispiel auch nach anderthalb Jahrhunderten noch Menschen in aller Welt inspirieren würde.

 

Lichter in der Dunkelheit

Heute übernachten die meisten Teilnehmer des Fackelzugs zum Gedenken an die Schlacht von Solferino, darunter viele Jugendgruppen, in einer Zeltstadt bei Castiglione. Die Stimmung ist ausgelassen, halb Sommerfest, halb Ferienlager. Und doch vermittelt das Camp zumindest eine Ahnung davon, wie es in einem Ernstfall zugehen würde. Die Regie hat Roberto Antonini, Leiter des Katastrophenschutzes beim Italienischen Roten Kreuz. Er ist gerade erst von einem Einsatz beim Erdbeben in der Emilia - Romagna zurückgekehrt.

Das Camp verfügt über hallenartige Druckluftzelte mit Stockbetten, fahrbare Generatoren, frisches Wasser und einsatzbereite Ambulanzen, falls jemand auf dem acht Kilometer langen Fackelzug einen Schwächeanfall erleiden sollte.

Camp 2010 in Solferino
Schlafstätte

Was hätten die Überlebenden der Schlacht wohl darum gegeben, wäre eine auch  nur annähernd vergleichbare Infrastruktur vorhanden gewesen?

Wären die Verbandsplätze nicht bei jedem gegnerischen Vorstoß geräumt worden, wären Ärzte und Pfleger nicht gefangen genommen oder gar erschossen worden?

So aber blieben Abertausende von Schwerverwundeten auf dem Schlachtfeld zurück, ohne Wasser, ohne Hilfe und ohne Hoffnung.

Der Fackelzug beginnt bei Einbruch der Dunkelheit am Burgberg von Solferino. Auf einer Anhöhe gelegen, mit Signalturm und einer trutzigen Kirche garniert, könnte das Dorf jeden Urlaubsprospekt schmücken. Halb Kundgebung, halb Prozession schiebt sich der Umzug durch die sonst so stillen Gassen, Hochrufe und Trommeln erschallen. 

Weiter geht es durch sanftes Hügelland, vorbei an Maisfeldern und Weingärten. Langsam erlischt das Himmelslicht, bis noch das Lauffeuer der fackeln zu sehen ist. Der Zug endet vor dem Dom von Castiglione, neben dem Palazzo, in dem Dunant einst logierte. Aus dem spontanen Samaritertum eines Einzelnen ist eine Weltorganisation entstanden, die vom gleichen Geist getragen wird.

Viele wesentliche Elemente der Rotkreuzarbeit waren in Dunants Einsatz bereits angelegt: die Pflege der Verwundeten durch freiwillige, die Neutralität des Sanitätspersonals, die menschenwürdige Behandlung von Gefangenen, die Suche nach Vermissten und die Korrespondenz mit Angehörigen. Auch Spendenaufrufe und Öffentlichkeitsarbeit gehören schon dazu. Seine entscheidende Leistung als Vordenker war es dann, aus dieser intuitiven Praxis eine exemplarische Angelegenheit zu machen und das Solferino - Prinzip auf Kriege aller Art zu übertragen.

Vor genau 150 Jahren, im Herbst 1862, erschien schließlich Dunants "Erinnerung an Solferino". Er hielt der Zeit darin einen Spiegel vor - und Europa erschrak vor sich selbst. Ein politischer Prozess kam in Gang. Ein Jahr später brachten sechzehn Staaten die erste Genfer Konvention auf den Weg.

 

 

Fackelzug zum Gedenken: Rotkreuzler aus aller Welt begehen in Italien den Jahrestag von Henry Dunants Einsatz für verwundete Soldaten während der Schlacht von Solferino. Rund 4000 sind im vergangenen Juni gekommen.

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 3_12, Text: Stefan Schomann  

Mission Menschlichkeit

Teil 2: Der Ernstfall 1864

Wenige Monate nach der Gründung des Roten Kreuzes begann der Deutsch - Dänische Krieg, der in der Schlacht von Düppel gipfelte. Noch heute gedenken Dänen und Deutsche der vielen Opfer, aber auch der ersten Helfer im Zeichen der Humanität.

 

Wir schreiben das Jahr 1864: Schleswig, Holstein und Lauenburg gehören zu Dänemark, sind aber zugleich Mitglieder im Deutschen Bund. Dänemark strebt nach mehr Einfluss über diese Länder. 

Ein willkommender Anlass für Preußen und Österreich, Dänemark anzugreifen.  

Militärisch ist der Dänisdch - Deutsche Krieg ein Probelauf für verbesserte Waffen: Panzerschiffe, Hinterlader und moderene Kanonen.

Erstmals kommen aber auch humanitäre Helfer zum Einsatz. Im Oktober 1863 wurde das Rote Kreuz gegründet, jetzt, vier Monate später, tritt der erste Ernstfall für die Organisation ein. 

In Genf trifft sich das Internationale Komitee des Roten Kreuzes. General Dufour besteht darauf, "zwei Delegierte zu endsenden, einen nach Deutschland und den anderen nach Dänemark, um unseren Grundsatz der Unparteilichkeit zu wahren".

Und so fahren zum ersten Mal zwei Beobachter unter dem Zeichen des Roten Kreuzes in einen Krieg. Der Genfer Arzt Louis Appia soll ihn auf preußischer Seite verfolgen, der holländische Kartograf Charles van de Velde aufseiten der Dänen. Jeder trägt eine weiße Armbinde mit rotem Kreuz. Außerdem Briefpapier, Skizzeblöcke und einen dicken Wintermantel.

 

 

Gedenken in Düppel: Auf einem Findling prangt eine Nachbildung der ersten Armbinde mit rotem Kreuz. Quelle: Wikipedia

Den Krieg menschlicher machen

Die Mission gestaltet sich heikel. Gerade ihre Unparteilichkeit macht die Emissäre suspekt, ihr Anliegen ist nicht ohne Weiteres begreiflich zu machen. Louis Appia bringt es schließlich auf eine Formel:"Unsere Mission ist es, den Krieg menschlicher zu machen - sofern dies nicht einen Widerspruch in sich darstellt." Zeitgleich wird in Berlin das Preußische Rote Kreuz gegründet.

Anders als bei den kurz zuvor in Württemberg und Oldenburg ins Leben gerufenen Hilfsvereinen handelt es sich hier um eine Gründung während eines Ernstfalls.

Während die Österreicher den Norden Jütlands besetzt halten, spitzt sich die lage für die Preußen zu: Nachdem sie die südlichen Grenzbefestigungen relativ leicht  überwunden haben, bilden die Schanzen von Düppel das letzte Bollwerk auf Jütland - eine Kette von Erdbastionen, die über drei Kilometer hinweg die Halbinsel versperren.

Anders als in Solferino findet hier keine Feldschlacht, sondern eine Belagerung statt. Sie zieht sich fünf Wochen lang hin. 11 000 dänischen Verteidigern stehe dreimal so viele Angreifer gegenüber. Düppel wird zur ersten Materialschlacht der Geschichte. Die Preußen feuern mit hunderten Geschützen.

Ich dieser kritischen Phase trifft van de Velde in Kopenhagen mit Politikern, Journalisten und Generälen zusammen. Doch sein Werben für Dunants Ideen stößt auf taube Ohren.

"Die militärischen Sanitätsstellen wären sehr eifersüchtig hinsichtlich jeder Hilfeleistung, die sich in ihre Arbeit einmischen wolle", berichtet er nach Genf. 

Mit Bangen fährt er an die Front. "Granaten und Splitter flogen um uns herum. Was für eine Nacht!". Er beschwört das dänische Oberkommando, ihn als Unterhändler ins gegnerische Lager zu schicken, um Listen der Gerfangenen und Verwundeten zu erstellen. Vergeblich - die argwöhnischen Generäle lassen ihn nicht ziehen. Appia hingegen findet mehr Verständnis. "Immer nimmt man mich ernst", berichtet er nach Genf. Die weiße Binde stets am Arm, inspiziert er Verbandsplätze, tauscht sich mit Ärzten aus und hält engen Kontakt mit der preußischen Heeresleitung.

Gemälde der Schlacht zu Düppel. Quelle: Wikipedia

Dänen sind die Fünften im Bund

Der 18. April 1864 wird zum Tag der Entscheidung. Von vier Uhr morgens an feuern die Preußen ohne Unterlass. Schlag zehn springen sie aus den Gräben und erstürmen die Schanzen. Appia folgt kurz hinter den Sturmtruppen - und blickt auf ein grausiges Bild der Zerstörung:

"Die Bäche sind durchtränkt von Blut. Die Landschaft ist vollkommen durchpflügt von Granateinschlägen. Es finden sich Fragmente von Briefen, an Eltern oder eine Liebste geschrieben". Bereits am Nachmittag verkünden Böllerschüsse in Berlin die Siegesnachricht. Die Dänen gründen noch im mai eine nationale Rotkreuzorganisation.

Es ist der fünfte Verband in Europa.

Die Schanzen bilden heute ein beliebtes Ausflugsziel. Das Areal ist zum Erlebnispark umgestaltet worden, mit einem Museum als Zentrum. Am Jahrestag stellen Komparsen die Schlacht nach. Die Stiefel gewichst, den Hahn gefettet, ziehen sie wie lebende Zinnsoldaten ins Manöver. "Aus dieser Niederlage erwuchs das moderne Dänemark", erklärt der schnauzbärtige Füsilier. Er rekonstruiert gerne die Schlacht.

"Auch wenn wir jedes Mal verlieren", fügt er mit einem melancholischen Lächeln hinzu.

Voraus geht eine gedenkfeier vor dem Ehrenhain, der mit Massengräbern und eisernen Kreuzen an das Gefecht mahnt. Hobby- und Berufssoldaten paradieren Seite an Seite. Zaungäste aus halb Dänemark säumen die Straße. Neben Soldaten der Bundeswehr sind auch der deutsche Botschafter und eine Abordnung aus Ahlen gekommen - in Gedenken an die 12 000 Westfalen, die als preußische Soldaten in Dänemark einmarschierten.  Mit Festansprachen, Kranzniederlegung und traurigem Trompetenschall erinnern sie an die  Schlacht. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Im Gleichschritt geht es die Chaussee hinab - vorbei an den Gräbern und Schanzen. Vorbei auch an einem großen Findling, auf dem eine Nachbildung der ersten Armbinde mit rotem Kreuz prangt.

Es ist der Gedenkstein für Appia und van de Velde, deren Mission es war, den Krieg menschlicher zu machen.          

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 4_12, Text: Stefan Schomann  

Der Eremit von Heiden

Teil 3: Henry Dunant

Was hat es mit der Heidener Konvention auf sich?

Warum steht ein rot-weißer Tisch im Park dieses idylischen Kurortes im Appenzellerland?

Wie kommt es, dass eine Postbeamtin aus dem beschaulichen Dorf als erste Frau den Fujiyama bestieg?  

Im Jahr 1887 lässt sich Henry Dunant in Heiden nieder. Er ist knapp 60 Jahre alt, ratlos, ziellos, heimatlos.

Über zehn Jahre hinweg hat er in Stuttgart bei Pfarrer Wagner, Gründungsmitglied des Württembergischen Sanitätsvereins, ein Zuhause gefunden. Doch dann stirbt der Pastor und wenig später auch dessen Witwe.

Dunant muss sich verändern.

Zurück nach Genf, an den Schauplatz seines größten Erfolges, der Schaffung des Roten Kreuzes, kann er nicht mehr.

Schließlich war seine Heimatstadt 1868 doch zugleich Schauplatz seines größten Debakels, als er für den Konkurs einer Bank verantwortlich gemacht wurde. Seither zog er durch Europa.

 

Die schweren Koffer, mit denen er an einem Julitag in Heiden in der "Pension Paradies" ankommt, enthalten kaum persönliche Habe - dafür aber umso mehr Korrespondenz, Zeitungsartikel und Schriften. Seit den Gründungstagen 1863 hat Dunant alles aufgehoben, was das Rote Kreuz betrifft. Der Schweizer Kurort tut ihm gut, der Blick über den Bodensee beschwört Kindheitserinnerungen an den Landsitz am Genfer See herauf. 

    

Henry Dunant. Das berühmte Altersfoto aus dem Jahre 1895 zeigt ihn im Schlafrock und mit wallendem Bart

Als seine Wirtsleute im nahen Örtchen Lindenbühl ein Grandhotel eröffnen, beschließt er, ebenfalls dorthin umzuziehen. Doch durch die Luke seiner Dachkammer blickt er auf Wald und Hügel - kein See in Sicht. Depressionen und Angstvorstellungen , unter denen Dunant seit Jahren  leidet, nehmen wieder zu.

Zu seinem Glück kommt er im Gemeindekrankenhaus von Heiden unter und Doktor Hermann Altherr nimmt sich seiner Nöte an. Dunant fühlt: Er ist in guten Händen. Noch einmal kehrt der alte Unternehmungsgeist zurück und Dunant regt 1888 die Gründung einer Rot Kreuz Sektion Heiden an.

 

Mit den Jahren aber wird Dunant immer wunderlicher. Verfolgungsfantasien peinigen ihn. Als Dauerpensionär kommt er im Gemeindekrankenhaus unter. Was Dunant wohl dazu gesagt hätte, dass das Rote Kreuz heute selbst Pflegeheime betreibt?

Dass es Schuldnerberatungen anbietet?

 

Allmählich spricht sich herum, dass der Gründer des Roten Kreuzes in Heiden wohnt. Die größte Aufmerksamkeit erregt ein Artikel in der Illustrierten "Über Land und Meer" im August 1895, für den auch das berühmte Altersfoto entsteht.  

Dunant empfängt den Journalisten Georg Baumberger im Schlafrock und beeindruckt mit deinem wallenden Bart, der weichen Stimme und seiner durchgeistigen Bescheidenheit.

"Man begreift, dass dieser Mann eine Weltmission zu erfüllen im Stande war", erkennt Baumberger damals. Die aktuellen spartanischen Lebensverhältnisse stehen im Kontrast zu Dunants glamouröser Vergangenheit. Bewegt ruft Baumberger zum Engagement für einen Engagierten auf. Sein Appell zieht Kreise: Dunant erhält Orden und Ehrendoktorwürden, Zuwendungen von Rotkreuz - Sektionen und Stiftungen.

Der Polarforscher Fridtjof Nansen schickt ein Geburtstagstelegramm, die Zarenwitwe Maria Feodorowna beehrt ihn mit einer jährlichen Rentenzahlung.   

Kompromissbereitschaft.

Der drei mal drei Meter große Heidener Friedenstisch des Schweizer Künstlers Hans Ruedi Fricker. Wer daran Platz nimmt, liest die "Heidener Konventionen" zur Beilegung zwischenmenschlicher Konflikte: Freiwilligkeit, Respekt, Offenheit, Zuhören, Verbindlichkeit und Umsetzung - mehr braucht es nicht, um die hohe Kunst des Kompromisses auszuüben.

Nobelpreis für sein Lebenswerk

Als am 10. Dezember 1901 der erste Friedensnobelpreis vergeben werden soll, formiert sich ein harter Kern von Unterstützern. Dunant erhält die Auszeichnung schließlich für sein Lebenswerk, gemeinsam mit dem Pazifisten Frédéric Passy. Doch der nun Vielumworbene verschanzt sich danach erneut in seiner Isolation. Zu den wenigen, die ihn noch erreichen, gehört die junge Postbeamtin Catharina Sturzenegger.

nach einem Unfall gehbehindert, ist sie zeitweise seine Zimmernachbarin im Krankenhaus. Die zwei schwer geprüften Außenseiter freunden sich an. Als 1904 der Krieg zwischen Russland und Japan ausbricht, macht sich Sturtzenegge als Dunants Abgesandte auf, um in Japan für die Prinzipien des Roten Kreuzes einzustehen. Vier Jahre bleibt sie in Fernost und erklimmt trotz Behinderung als erste Frau den Fujiyama.

 

Die weltweite Umsetzung seiner Ideen ist Dunants letzte Genugtuung. Am 30. Oktober 1910 verzeichnet das Krankenhausjournal lapidar seinen "Austritt".

Dunant wurde 82 Jahre alt, die Todesursache: Altersschwäche.

 

Für die Menschen in Heiden ist Henry Dunant ein Teil ihrer Gechichte. "Wir sehen ihn als einen Mitbürger, der hier gewirkt hat", erklärt Maria Schnellmann vom Verein "Dunant 2010plus Heiden".

Zum Jubiläum hat der Schweizer Konzeptkünstler H.R. Fricker an der Seelenallee einen drei mal drei Meter großen "Friedenstisch" in Form eines Roten Kreuzes mit vier weißen Sitzbänken installiert.

wer daran Platz nimmt, liest die in die Platte eingelassene"Heidener Konvention".

 

Dass Dunants Feuer weiterbrennt, bestätigt auch Doris Baschnonga vom Dunant - Museum, das im einstigen Gemeindekrankenhaus untergebracht ist.

"Neulich hatte ich Berufsschüler hier, darunter junge Männer aus dem früheren Jugoslawien. Die kamen mit langen Gesichtern an: Oje, ein Museum! Am Ende habe ich sie kaum herausbekommen. Sie saßen am Boden, erzählten vom Krieg und diskutierten über diesen coolen Typen namens Dunant."            

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 1_13, Text: Stefan Schomann 

Mission in eisiger Weite

Teil 4: Gefangenenfürsorge im Ersten Weltkrieg

Für unzählige gefangene deutsche Soldaten jenseits des Urals sind Rotkreuzschwestern die letzte Hoffnung - auf verbesserte Bedingungen in den geheimen russischen Lagern und auf ersehnte Nachrichten zwischen ihnen und ihren Angehörigen.

Unbeschreibliche Freude und Erleichterung, als eine Rotkreuzdelegation im Lager auftaucht. 

"Wir dachten, wir würden hier sterben, ohne das je in der Heimat jemand von uns erfährt".

Sätze wie diese sind von den gefangenen Soldaten  im Lager Tjumen östlich des Urals überliefert. Einige Hundert Deutsche vegetieren vor sich hin, als Alexandrine Gräfin Üxküll-Gyllenband, Oberin der Wiesbadener Schwesternschaft, sie im Herbst 1915 besucht. Allein ihre Anwesenheit zeigt, dass die Internierten nicht vergessen und verlassen sind. 

Das Schicksal gefangener Soldaten im Krieg ist von Anfang an ein wichtiges Thema der Rotkreuzbewegung. Infolge der Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 sind internationale Mindeststandarts für die Behandlung von Kriegsgefangenen entwickelt worden - noch rechtzeitig vor Beginn des Ersten Weltkrieges. 

Bis 1918 geraten rund acht Millionen Soldaten in Gefangenschaft, dazu viele4 Hunderttausend Zivilisten. Die lager verteilen sich über ein riesiges Gebiet von Nordafrika bis Japan.          

Einsatz für die Menschenwürde. Deutsche Kriegsgefangene in Russland. Drei Rotkreuzschwester-Teams um Gräfin Üxküll versuchen ab 1915/ 16, das Schicksal der inhaftierten deutschen Soldaten in der eisigen Weite von Sibirien zu verbessern. Quelle: Wikipedia

In Genf richtet das Internationale Komitee vom Roten Kreuz eine Zentralstelle ein, die weltweit die Gefangenen erfasst, Nachrichten zwischen ihnen und ihren Angehörigen austauscht sowie Nachforschungen nach Vermissten anstellt.

Deutschland und Russland vereinbaren außerdem Inspektionen der gegnerischen Internierungslager. Die ersten drei Abordnungen im Zarenreich bestehen jeweils aus einer deutschen Rotkreuzschwester, einem dänischen Delegierten als neutralem Beobachter und einem russischen Kontrolloffizier.

"Im Kriegsministerium ging ich ein aund aus", berichtet Gräfin Üxküll. Die adeligen Damen nutzen ihre Beziehungen zur russischen Aristokratie und sprechen auch in Zarskoje Selo vor, wo die Zarin, die gebürtige Prinzessin Alix von Hessen - Darmstadt, sie in Schwesterntracht empfängt.  

Alexandrine Gräfin Üxküll-Gyllenband. Als Oberin der Wiesbadener Schwesternschaft nutzt sie ihre Kontakte zum Adel. Quelle: Wikipedia

Zunächst beabsichtigen die Russen, die Delegierten in Vorzeigelager im europäischen Teil Russlands zu führen.

Doch die Schwestern bestehen darauf, auch die abgelegenen Lager in Sibirien und Mittelasien zu besuchen. Als wichtige Verbündete stehen ihnen der schwedische Botschafter Edvard Brandtröm und dessen Tochter Elsa zur Seite, die als "Engel von Sibirien" zu einer humanitären legende wird.

Die russischen Lager entsprechen nicht den Vorgaben der Genfer Konvention. In vielen Camps kommt die Hälfte der Internierten ums Leben, in manchen sterben zwei Drittel. Erschüttert schildert Gräfin Üxküll ihre Eindrücke: "Von Stacheldraht umgeben, in notdürftigen Behausungen hungernd, Sibiriens eigier Kälte in zerrissener Bekleidung ausgesetzt, ohne Nachricht von Angehörigen, fristen sie ihr Dasein. Fleckfieber und Typhus rafften Unzählige dahin, 600 000 deckt die russische Erde".

Über zehn Wochen hinweg besuchen die drei Teams 48 000 Gefangene, verteilen über eine Million Mark und nehmen 37 000 Briefe in Empfang. Der Gefreite Wilhelm Brinkmann erlebt einen solchen Besuch im äußersten Osten Sibiriens. Eines Tages bekommen er und seine Kameraden Besen ausgehändigt, um die Baracken zu säubern. Eine Inspektion wird angekündigt: Magdalene Gräfin von Walsleben ist eine der drei Abgesandten. Brinkmann schildert ihren Besuch wie eine Erscheinung: "Sie ist für uns ein heiliges, überirdisches Wesen, und wir sind verhungerte, von Ungeziefer starrende Halbtiere."  

Sie hört sich die Klagen der Gefangenen an, ermahnt den Kommandanten und rauscht dann wieder in die Taiga davon. An den Zuständen im Lager ändert sich nichts.

Dennoch sind die besuche von unschätzbarem Wert, denn sie bringen Hoffnung und Nachrichten aus der weitentfernten Heimat.

In den Wirren des russischen Bürgerkriegs werden die Gefangenen schließlich entlassen. Es ist eine mörderische Zeit.

Auch die Rot Kreuzschwestern sind ihres Lebens nicht mehr sicher.

Insgesamt kommen im Ersten Weltkrieg 863 deutsche Rotkreuzanghörige ums Leben.

Elsa Brandström betreut bis in die 1930er-Jahre hinein Kriegswaisenkinder in Deutschland.

Das habe sie den Gefangenen in Sibirien versprochen, sagt sie.         

Elsa Brandström. Die Tochter des schwedischen Botschafters wird für die Gefangenen zum "Engel von Sibirien".

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 2_13, Text: Stefan Schomann 

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Teil 5: Der Suchdienst nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Schicksale der Vermissten des Zweiten Weltkriegs klären und Familien wieder vereinen:

Der Suchdienst verkörpert exemplarisch die seelische Not der Nachkriegszeit. Zwischen Zusammenbruch und wiederaufbau wird er zum Synonym für das Rote Kreuz.

Mayr, Meier, Meyer.

Schmid, Schmidt, Schmitt.

In den Regalen des DRK-Suchdienst in München stehen die Karteikästen eng beieinander, auf jedem prangen die darin enthaltenen Namen.

Da oft Ausweise und andere Dokumente in den Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Suchanfrage fehlten, wurden manche Namen nur mündlich übermittelt und demzufolge auch falsch notiert - erschwerte Bedingungen für die Helfer des DRK-Suchdienstes und die Angehörigen.

Auf drei Kästen "Helmut Schulz" folgen drei Kästen "Herbert Schulz". Jeder umfasst etwa zweitausend Karteikarten. Und damit zweitausend Menschenleben.

Von denen die meisten, wie man so sagt, im Krieg geblieben sind.

 

Die Geschichte des Suchdiestes beginnt im Mai 1945 in Flensburg.

Die Straßen quellen über vor Flüchtlingen, die per Schiff über die Ostsee gekommen sind. Dazwischen abziehende Soldaten, demobilisierte Matrosen und heimkehrende Verwundete.

Der Krieg hat sie hier angespült, und sie können  heilfroh sein, dass sie noch leben.

Doch wohin jetzt?

Wie finden sie die, die zu ihnen gehören? 

Ganze Provinzen haben die Staatsangehörigkeit gewechselt, ganze Städte sind getilgt worden, ganze Divisionen ausgelöscht.

Verkehrs- und Komunikationswege funktionieren nicht mehr, von Ämtern ganz zu schweigen. Jeder vierte Deutsche ist nun ein Suchender oder ein Gesuchter, manchmal auch beides.

 

Aus improvisierten Anfängen entsteht eine Institution , die versucht, die seelische Trümmerlandschaft der Nachkriegszeit aufzuräumen. Neben dem DRK-Suchdienst in München und Hamburg ermittelt auch der Internationale Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen, der sich in erster Linie um Holocaust-Opfer kümmert.

Den Nachforschungen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Jede Anfrage besteht aus einer Stammkarte mit Personalien des Suchenden sowie einer Suchkarte mit Angaben über den gesuchten.

Beide werden in die zentrale Namenskartei aufgenommen. Startet der gesuchte seinerseits eine Anfrage, begegnen sich Stamm- und Suchkarten in den Tiefen des Archivs. Die Mitarbeiter nennen das eine "Hochzeit" - die Suche hat ein Happy End.  

 

 

 

Suchdienst in den 1950er Jahren

Was aber, wenn der gesuchte tot ist?

Oder in Gefangenschaft?

Zur wichtigsten Informationsquelle werden die Kriegsgefangenen, die nach und nach zurückkehren. Ob in den Heimatorten oder im Auffanglager Friedland - im ganzen Land  befragen Rotkreuzhelfer die Heimkehrer. Wenn über Jahre kein Lebenszeichen kommt und keine Besätigung eines Kameraden, dann ist der Betreffende sehr wahrscheinlich tot.

 

Doch auch Todeserklärungen besitzen einen hohen Wert. Der Gesuchte  ist nicht irgendwann und irgendwo verschwunden, sondern er ist an einem bestimmten ort gefallen oder in einem Lazarett verstorben. Vielleicht ist sogar die Grabstelle bekannt und das genaue Todesdatum. Der Schlusspunkt unter die Suche hat auch praktische Konsequenzen: Der Hof kann an den jüngsten Sohn übergeben werden, die Witwenrente ausbezahlt werden.

 

In 300 000 Fällen sind Kinder von ihren Müttern getrennt worden. wenn die Kinder selbst Auskunft geben können, stehen die Chancen gut.

Was aber wenn Bahnbeamte in einem leeren Zug ein wimmerndes Bündel gefunden haben?

Der Suchdienst nutzt Fotos, Beschreibungen, Körpermerkmale und plakatierte Steckbriefe im ganzen Land. 

 

 

DRK-Suchdienst in München 1955. Kriegsheimkehrer werden anhand von Bildern nach noch vermissten Soldaten befragt.

Die Detektivarbeit des Suchdienstes wird durch die Zeitumstände erschwert.

So auch bei Gertrud Rohmann, die ihre zweijährige Tochter auf der Flucht aus Ostpreußen Verwandten anvertraut hat, weil diese mit der Eisenbahn schneller vorankommen würden. Doch das Kind erkrankt und muss in Kolberg ins Spital - dort verliert sich die Spur. Tatsächlich wird es dann per Schiff evakuiert. Das Schiff wird versenkt, aber das Mädchen überlebt und kommt schließlich zu einer Pflegefamilie in Mecklenburg. Die Mutter ist unterdessen von der Roten Armee in ein Lager verschleppt worden.

Erst nach mehreren Jahren Zwangsarbeit kann sie nach Neumünster ausreisen. Sowohl die Mutter als auch die Pflegeeltern  melden den Fall dem Suchdienst.

Doch weil die Beteiligten in beiden Teilen Deutschlands leben, kommen die Ermittlungen nicht voran.

Zum entscheidenden Indiz wird schließlich ein rotes  Käppchen, das das Kind noch trug, als es in Mecklenburg  ankam.

Elf Jahre danach darf Gertrud Rohmann ihre Tochter in die Arme schließen.  

 

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 3_13, Text: Stefan Schomann

Eine Insel der Nächstenliebe

Teil 6: Hospitalschiff Helgoland

Die längste Auslandsmission des DRK fand während des Vietnamkriegs statt:

Über fünf Jahre lang, von 1966 bis 1971, war das Hospitalschiff "Helgoland" mit Unterstützung der Bundesregierung im Südchinesischen Meer als schwimmendes Krankenhaus im Einsatz.

Bis Mitte der 1960er-Jahre fährt die "Helgoland" im Liniendienst zu jener Insel in der Deutschen Bucht, die ihr den Namen gegeben hat.

Sie steht für Urlaubsfreuden, Nordseewellen und Romantik. Dann aber wird das Schiff unversehens ins Südchinesische Meer entsandt - mitten hinein in einen fürchterlichen Krieg.

 

Amerika drängt Deutschland damals zu einer stärkeren Beteiligung in Vietnam. Bonn bietet die entsendung eines Hospitalschiffs an. Die "Helgoland" wird aufwendig umgebaut, Tanzsalon und Andenkenkiosk weichen Operationssälen, Röntgenabteilung und Labor. Im September 1966 läuft sie ins Delta des Mekong ein. Zunächst wird sie in Saigon stationiert, nach einem Jahr dann in Da Nang, einer Hafenstadt etwa in der Mitte des gespaltenen Landes.

 

Die erste Delegation besteht aus sieben Ärzten, 20 Schwestern, acht Pflegern und sechs technischen Mitarbeitern. Sie alle haben sich für sechs Monate verpflichtet. Über fünf Jahre hinweg kommen 122 Rotkreuzschwestern zum Einsatz, manche davon mehrmals, dazu gut 50 Ärzte sowie fast 100 Pfleger und technische Helfer.

Viele gehören zur Protesgeneration, sind hochgradig politisiert.

 

"Es war eine verkehrte Welt", befindet Ite Totzki, damals 20 und als Krankenschwester in der Unfallchirurgie tätig. "Die jungen Leute demonstrieren gewaltsam gegen Gewalt. Uns bot sich die Chance, selbst zu helfen - das war der richtige Weg".

Auch für Elisabeth Arkenberg gibt das konkrete menschliche Beispiel den Ausschlag: "Wir wollten den Vietnamesen zeigen, dass nicht alle Westler den Kurs der amerikanischen Regierung gutheißen".

 

Das geschundene Land verfügt kaum über Ärzte, und zwei Kriege haben die Infrastruktur weitgehend zunichtegemacht. Das Hospitalschiff dagegen ist medizinisch bestens ausgestattet, bietet Duschen, sauberes Trinkwasser, beständige Elektrizität und genügend Vorräte. Und die "Helgoland" ist ein Ort, der nicht angegriffen wird. Der Liegeplatz bleibt von Beschuss verschont.

 

Bei der Mehrzahl der Fälle, die auf der "Helgoland" behandelt werden, handelt es sich um Verletzungen, die nur Kriegschirurgen kennen. Da ist der Junge, der mit einer Handgranate gespielt hat. Dort der Verkehrspolizist, dessen Körper derart mit Bombensplitter gespickt ist, dass die Schwestern auch am dritten Tag noch Metallstücke entfernen. Da das Mädchen, dem ein Querschläger die Leber zerrissen hat und das wenige Tage nach der Operation schon wieder quitschfidel spielt. Dort der Kriegsdienstverweigerer, der sich die Zehen abgetrennt hat, um nicht kämpfen zu müssen. Da der alte Bauer, über dessen Dorf Napalmbomben niedergegangen sind.                           

 

Ort der Hoffnung. Das DRK-Hospitalschiff "Helgoland" 1968 vor Anker in Vietnam (vermutlich am Kai der Stadt Da Nang).

Auch die seemännische Besatzung erlebt das Grauen des Krieges hautnah.

Jürgen Arkenberg war damals zweiter Ingenieur: "Wir hatten ein fünfjähriges Mädchen mit Verbrennungen am ganzen Körper, die schrie in einem fort", berichtet er, und noch heute muss er dabei schlucken.

"Sie wurde jeden Tag gebadet, um die verkrusteten Verbände ablösen zu können. Wir wussten, dass sie nicht zu retten war. Schicksale wie das ihre haben mich an meine Grenzen gebracht".

 

Glück und Unglück, Leben und Tod folgen an Bord oft unmittelbar aufeinander. Würden die Helfer sich nicht auch der Freude am Leben hingeben, sie müssten wohl am Elend ihrer Patienten verzweifeln und könnten ihre Arbeit nicht mehr leisten. Als eine von 30 Ehen, die die "Helgoland" hervorgebracht hat, sind Jürgen und Elisabeth Arkenberg selbst ein Beispiel dafür.

Und so enthalten die Erinnerungen dieser ungewöhnlichen Vietnamveteranen durchaus auch unbeschwerte, sinnliche Szenen. Sie schwärmen vom Zauber der Tropennächte, von Glücksmomenten mit einem Glas Wein oder einem Joint an der Reling, von den improvisierten Feiern in den engen Schiffsgängen, mit Songs aus dem Musical Hair vom Tonband.

 

Wie eine Namenspatronin ist auch das Schiff eine Insel. Briefe nach hause sind zwei Wochen unterwegs, es gibt kein Telefon, geschweige den Internet.

"Das war auch ein Schutz", meint Ite Totzki. "Es hätte uns schon sehr belastet, hätten wir unmittelbar Austausch mit unseren Familien gehabt. So mussten wir uns gegenseitig Auffangen".

 

Die Bilanz des Einsatzes ist beeindruckend: über 10 000 Operationen, gut 12 000 stationäre Behandlungen, 70 000 Erst- und 130 000 Mehrfachkonsultationen in der Ambulanz. Gelegentlich finden sich die "Helgoländer" heute noch wie zu einem Klassentreffen zusammen. Der alte elan ist dabei immer noch zu spüren. Genauso wie die Begeisterung, mit der in stürmischen Zeiten Hilfe geleistet wurde - damals, im Südchinesischen Meer.               

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 4_13, Text: Stefan Schomann

Außnahmezustand in der Prager Botschaft

Teil 7: DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft

Europa im Umbruch - im Spätsommer 1989 gerät die Prager Botschaft in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.

Tausende DDR-Bürger haben in der diplomatischen Vertretung der Bundesrepublik   Deutschland Zuflucht gesucht. Das DRK ist vor Ort, betreut und versorgt die Botschaftsflüchtlinge mit Zelten, Schlafsäcken, Windeln und Nahrung.

Die Bilder gehen um die Welt: Im Spätsommer 1989 entern Tausende von DDR-Bürgern die bundesdeutsche Botschaft in Prag. Sie klettern über den Zaun oder schlüpfen durchs Tor. Manche haben sich monatelang auf eine Flucht vorbereitet, doch die meisten handeln kurz entschlossen, in der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Für die beiden deutschen Staaten wie auch für die Tschechoslowakei ist dies eine unbequeme, schwer kontrollierbare Situation: Da sich das Drama im Garten der Botschaft im Prager Palais Lobkowitz vor laufenden Fernsehkameras abspielt, nimmt die ganze Welt Anteil.

 

Deutsche Rotkreuzhelfer haben bereits Stockbetten und Großzelte aufgebaut; die Bundeswehr schickt tonnenweise Verpflegung. Doch wer soll kochen? Der Kreisverband Euskirchen entsendet seine Schnelleinsatzgruppe - medizinisch und technisch ausgebildete Rotkreuzler, die darauf spezialisiert sind, viele Menschen im Notfall mit Essen und anderen Hilfsgütern zu versorgen. Angelika Schmitz ist eine dieser Logiostikexpertinnen. "Es galt, täglich Tausende von Menschen zu verpflegen und halbwegs bei Laune zu halten", erinnert sie sich. Die größten Sorgen bereiten den Helfern das Müllproblem und die hygienischen Verhältnisse: "Nicht auszudenken, wenn auf dem Gelände eine Seuche ausgebrochen wäre".

 

Für die Hilfskräfte bedeutet der Einsatz in jeder Hinsicht einen Ausnahmezustand. "Ich hatte schon manche Großveranstaltungen mitgemacht, aber das hier ließ sich mit nichts vergleichen", bekennt Angelika Schmitz. Die gewohnten Rotkreuzroutinen bieten immerhin einen gewissen Halt. "Wir haben einfach funktioniert, wie wir es gelernt hatten." Die Unterbringung der Helfer gestaltet sich freilich schwierig: "Es war ja alles durch die Flüchtlinge belegt. Mal schliefen wir auf Matratzen in der Hausmeisterwohnung, mal im Aufenthaltsraum der Putzfrauen, mal vor dem Kraftfahrerbüro."

 

Angelika Schmitz führt ein Einsatztagebuch. Für längere Schilderungen bleibt ihr indes keine Zeit - es wird eine Art Haushaltsbuch, in dem sie die Zahl der ausgegebenen Essensporionen verzeichnet, den Speiseplan und ein paar Begebenheiten am Rande. Wie ein Crescendo steigern sich ihre Aufzeichnungen von Tag zu Tag, von den noch vergleichsweise überschaubaren Zuständen am 22. September - "Kassler, Püree, Sauerkraut und Joghurt für circa 650 Personen; im Garten Stimmung wie auf einem Campingplatz" - bis zum Höhepunkt des Ansturms am 4. Oktober: "Suppe querbeet, was eben erreichbar war, für circa 10 000 Personen.  

  

 

Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag. Blick auf Zelte des DRK auf dem Gelände der Botschaft. Das DRK versorgt die Flüchtlinge mit Essen und weiteren Hilfsgütern.

Ein Freudentag im Regen

Dr. Rudolf Seiters, der heutige Präsident des DRK, ist 1989 Kanzleramtsminister in der von Bundeskanzler Helmut Kohl geführten Bundesregierung und in dieser Funktion bei den Verhandlungen über eine Ausreise federführend. Gemeinsam mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher fliegt Seiters nach Prag, um den Flüchtlingen am 30. September 1989 um 18.58 Uhr die erlösende Nachricht zu überbringen, dass die "Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist". Trotz Regen und Morast wird es ein Freudentag. "Vom Balkon aus blickte ich auf die großen Zelte im Botschaftsgarten", erinnert er sich. "Das war mein Schlüsselerlebnis mit dem Roten Kreuz - in einer solch schwierigen Situation war dessen Hilfe von unschätzbarem Wert." Nach Genschers Ansprache tauscht Seiters sich mit den Flüchtlingen aus. "Natürlich erfüllte sie auch Besorgnis , aber an diesem Abend kannte die Begeisterung keine Grenzen."

Viel Zeit bleibt nicht, denn nun muss die Aufnahme der Flüchtlinge an der Grenze vorbereitet werden. In drei Schüben werden sie mit Sonderzügen evakuiert; die ersten verlassen Prag noch in der gleichen Nacht. Das SED-Regime besteht darauf, sie auf einem weiten Umweg quer durch die DDR nach Bayern zu leiten, um den Besitzanspruch an seinen Bürgern vorzuführen und ihre Ausreise als "Ausweisung" deklarieren zu können. In Hof, der ersten Station auf bundesdeutschem Gebiet, warten 300 Helfer auf die Menschen in den Zügen. Insgesamt gelangen rund 20 000 Menschen über Prag in den Westen, etwa ebenso viele reisen über Ungarn ein.

 

Am 9. November fällt die Berliner Mauer. Der Kalte Krieg ist zu Endem die deutsche und die europäische Wiedervereinigung nehmen ihren Lauf. 

Quelle: Bericht rotkreuz magazin 1_14, Text: Stefan Schomann

Damit endet unsere historische Serie.

 

Die ganze Geschichte aus der 150-jährigen Historie des Roten Kreuzes können sie im Jubiläumsbuch "Im Zeichen der Menschlichkeit" nachlesen.

 

Viel Spaß!

 

Erfahren Sie mehr über die vielfältigen Aufgaben des Roten Kreuzes im In- und Ausland.